Kritik am "Starke-Familien-Gesetz"

Tim Rietzke ist Leiter des Geschäftsfelds Familie und junge Menschen bei der Diakonie RWL.
Tim Rietzke ist Leiter des Geschäftsfelds Familie und junge Menschen. (c) Diakonie RWL.

Das Gespräch führte Ann-Kristin Herbst; Foto: (c) Diakonie RWL

Düsseldorf
. Die Sommerferien sind vorbei: In NRW beginnen zwei Millionen Kinder und Jugendliche ein neues Schuljahr. Neue Bücher, Ausgaben für Ausflüge und Mittagessen - für viele Familien sind die Kosten nur schwer zu stemmen. Die Bundesregierung will Geringverdiener jetzt mit dem "Starke-Familien-Gesetz" unterstützen. Auch ein Rechtsanspruch auf einen Platz in der Offenen Ganztagsschule steht zur Debatte. "Für soziale Gerechtigkeit braucht es mehr", sagt Tim Rietzke, Familienexperte der Diakonie RWL.

Was ändert sich mit dem "Starke-Familien-Gesetz"?

Familien mit kleinem Einkommen erhalten mehr Unterstützung. Der Kinderzuschlag wird von 170 auf 185 Euro erhöht. Für Hefte, Bücher und Schulranzen gibt es statt 100 jetzt 150 Euro. Das Mittagessen in der Kita, im Hort oder der Schule wird genauso übernommen wie das Monatsticket für den Bus. Und auch Nachhilfe soll es jetzt unkomplizierter geben und nicht nur, wenn die Versetzung gefährdet ist.

Alles in allem ist das ein wichtiger erster Schritt. Die bürokratischen Hürden werden ein wenig gesenkt. Wer Arbeitslosengeld II bezieht, stellt zum Beispiel automatisch einen Antrag auf Leistungen des Bildungspakets. Trotzdem befürchte ich, dass viele Familien die Leistungen nicht in Anspruch nehmen werden.

Was kritisieren Sie?

Einfach nur die Leistungen zu erhöhen, führt nicht dazu, dass auch mehr Leute die Angebote wahrnehmen. Die Familien werden immer noch zu Bittstellern gemacht, die jede Leistung einzeln beantragen müssen. Wer sein Kind in den Sportverein schicken möchte, muss einen Nachweis einreichen, genauso bei Klassenfahrten oder der Lernförderung. Das zeugt von einem Misstrauen den Familien gegenüber.

Außerdem ist das Stellen der Anträge noch immer zu aufwändig. Es gibt keine zentrale Anlaufstelle. Anträge müssen je nach individueller Situation beim Jobcenter, dem Jugendamt oder anderen Ämtern eingereicht werden. Hinzu kommt die Scham. Viele Familien möchten den Sportverein nicht um einen Nachweis für das Amt bitten. Inwieweit Familien an dieser Stelle stark gemacht werden, erschließt sich mir nicht.

Wie könnte das Verfahren denn verbessert werden?

Wir müssen wegkommen von den vielen Anträgen für unterschiedliche Leistungen. Das überfordert Familien. Eine feste Sicherung, die sich nach dem soziokulturellen Existenzminimum richtet, ist ein guter Weg. Eine solche Grundsicherung ermöglicht allen Kindern Teilhabe.

Aber auch unter den bestehenden Rahmenbedingungen könnten die Familien besser erreicht werden, wenn Kreise und Kommunen den Mut haben, kreative Lösungen durchzusetzen. Im westfälischen Hamm können Familien mit geringem Einkommen zum Beispiel eine Karte für alle Leistungen der Bildung und Teilhabe vorlegen. Die Vereine und Nachhilfelehrer rechnen dann direkt mit dem zuständigen Amt ab. Und das ist erfolgreich: Über 90 Prozent der leistungsberechtigten Familien nutzen die Angebote. Zum Vergleich, deutschlandweit waren es nach einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands 2017 weniger als 15 Prozent der eigentlich leistungsberechtigten Familien.

Das Gesetz soll Kinderarmut bekämpfen. Wie steht es um die soziale Gleichheit in den Schulen in NRW?

Noch immer hängt Bildung und Teilhabe stark vom Familienhintergrund und Wohnort ab. Das sieht man ganz deutlich bei den Offenen Ganztagsschulen (OGS). Es gibt in Nordrhein-Westfalen fast 3000 Grundschulen, die einen offenen Ganztag anbieten. Über 530 davon sind in Trägerschaft von Diakonie und evangelischer Kirche. Wir stellen fest, dass viele nicht ausreichend finanziert sind und es von Kommune zu Kommune, von Kreis zu Kreis erhebliche Unterschiede in der Ausstattung gibt.

Die Ganztagsschulen werden vom Land und der Kommune gemeinsam finanziert. Städte wie Düsseldorf oder Bonn, die einen stabilen Haushalt haben, können eine gute Ganztagsbetreuung anbieten - mit genügend Platz und Fachpersonal, weil sie neben ihrem Pflichtanteil zusätzliches Geld in die Hand nehmen. In finanziell klammen Kommunen, zum Beispiel im Ruhrgebiet, ist die OGS-Betreuung qualitativ viel schlechter. In manchen Schulen müssen Kinder in ihren Klassenräumen oder in Schichten essen, weil einfach der Platz fehlt. In anderen Schulen ist die Betreuung irgendwo im Keller untergebracht und es können kaum Fachkräfte finanziert werden. In Schulnoten ausgedrückt sind die Zustände mangelhaft bis ungenügend.

Vor zwei Jahren hat die Diakonie RWL mit der Freien Wohlfahrtspflege NRW eine Kampagne für mehr Qualität in der OGS gestartet und im letzten Jahr ihren Forderungen mit einer Petition Nachdruck verliehen. Was hat sich seitdem getan?

Knapp 56.000 Menschen hatten unsere Forderungen nach einem "Rettungspaket" für die nachmittägliche Betreuung an Grundschulen unterschrieben. Unser Hauptanliegen – ein Gesetz, das die Qualität im offenen Ganztag regelt – wurde bislang nicht erfüllt. Im Februar hat die NRW-Landesregierung einmalig sechs Prozent mehr Geld zur Verfügung gestellt. Das ist ein gutes Zeichen, letztlich aber viel zu wenig. Vor allem weil das Geld bei einigen gar nicht ankommt. Es gibt Kommunen, die geben die Erhöhung nicht an die Schulen weiter. Sie senken vielmehr ihren Eigenanteil entsprechend.

Auf Bundesebene möchte die große Koalition ab 2025 einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz schaffen. Was halten Sie davon?

Das ist grundsätzlich gut. Nachmittägliche Betreuung muss für alle Kinder verfügbar sein. Es gibt noch immer Gegenden, in denen Eltern jahrelang auf einen Platz warten müssen. Es hilft aber nicht, wenn dann die Gruppen durch den Rechtsanspruch immer größer werden und die Qualität immer weiter abnimmt. Deshalb müssen auch Mindeststandards diskutiert werden. Wir brauchen qualifiziertes Fachpersonal. Für 25 Kinder sind das mindestens 1,5 pädagogische Fachkräfte. Und es muss Vorgaben zu Raumgrößen und Ausstattung geben. Es wäre fatal, wenn über einen weiteren quantitativen Ausbau die Qualität der Angebote völlig aus dem Blick gerät.

Info:

Das "Starke-Familien-Gesetz"

Familien, die Grundsicherung, den Kinderzuschlag, Wohngeld oder Asylbewerberleistungen beziehen, haben Anspruch auf Leistungen zur Bildung und Teilhabe. Ausflüge, Klassenfahrten, das Nahverkehrsticket zur Schule und Lernförderung werden übernommen. Der Eigenanteil für das Mittagessen in den Schulen entfällt seit August 2019. Außerdem gibt es 150 statt 100 Euro im Jahr für den Schulbedarf. Die kulturelle Teilhabe wird mit 15 Euro im Monat unterstützt.

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