Impflicht ja – aber nur für bestimmte Berufsgruppen

Fotoarchiv: Impfung bei der Diakonie im Frühling 2021

In der neuen Ausgabe der Diakonie-Zeitschrift „Mittendrin“ informiert die Diakonie über Themen und Veranstaltungen der vier Fachbereiche. Dort äußert sich Geschäftsführer Pfarrer Joachim Wolff zum Thema Impfpflicht und wie die Diakonie als Arbeitgeberin damit umgeht. Eine allgemeine Pflicht zur Impfung lehnt Wolff ab, findet sie für bestimmte Berufsgruppen jedoch zwingend notwendig. Und: Nicht-Geimpfte müssten mit den teilweise einschneidenden Konsequenzen leben, schreibt er. Das sind bei der Diakonie im Kirchenkreis Kleve Anfang Dezember noch 5 Prozent der rund 150 Mitarbeitenden. In einem Interview erläutert Wolff, warum er sich gegen eine allgemeine Impfpflicht ausspricht und warum er viele öffentliche Schuldzuweisungen nicht hilfreich findet.

Schmelting: Die neue Ratsvorsitzende der EKD, die westfälische Präses Dr. h.c. Annette Kurschus, fordert angesichts der aktuell dramatischen Situation eine allgemeine Impfpflicht. Was halten Sie davon?

Wolff: Eine allgemeine Impfpflicht halte ich nicht für zielführend, zumal sie für die „vierte Welle“ zu spät käme.

Schmelting: Was schlagen Sie vor?

Wolff: Zunächst einmal gilt es, die Entscheidungen, die Menschen treffen, zu respektieren. In unserem Leitbild heißt es: Wir nehmen jeden Menschen mit seinem individuellen Lebensentwurf an. In der Diakonie haben wir es immer wieder mit Menschen zu tun, deren Lebensentwürfe stark von dem abweichen, was wir mehrheitlich für normal oder wünschenswert erachten. Wer für sich entscheidet, sich nicht gegen das COVID19-Virus impfen zu lassen, soll diese Entscheidungsfreiheit haben – mit allen daraus resultierenden Folgen. Ein deutlich erhöhtes Infektionsrisiko ist die gravierendste Folge. Ein klares Regelwerk, wie die tägliche Testung vor Arbeitsbeginn, ist aus meiner Sicht eine zumutbare Konsequenz. Auch weitere Einschränkungen im öffentlichen Leben müssen Nicht-Geimpfte in Kauf nehmen, zu ihrem eigenen Schutz und um andere zu schützen. Das gebietet die Fürsorgepflicht.

Schmelting: In der Videoschalte der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs und –chefinnen am 2. Dezember wurde vereinbart, dass der Bund eine einrichtungsbezogene Impfpflicht für Beschäftigte auf den Weg bringen soll.

Wolff: Ich halte es für geboten, dass in bestimmten Berufen nur vollständig gegen das COVID19-Virus geimpfte Personen arbeiten dürfen. Besonders dann, wenn es berufliche Kontakte mit vulnerablen Menschen gibt. Eine Impfpflicht für medizinische und pflegerische Berufe, für Berufe in der Eingliederungshilfe oder im Kontakt mit Kindern bis zum 12. Lebensjahr muss es unbedingt geben. Denn in der Regel haben die Nutzer*innen dieser Angebote selber nicht die Freiheit, den Kontakt mit ungeimpften Mitarbeitenden zu vermeiden. Hier gilt es, die Schwächeren zu schützen, beispielsweise Patient*innen, Bewohner*innen von Senioreneinrichtungen, Menschen mit Behinderung oder Kinder.

Schmelting: Warum sind Sie so entschieden gegen eine allgemeine Impfpflicht?

Wolff: Weil ich vermute, dass sie nicht durchzusetzen ist. Es wird Menschen geben, die wir kaum erreichen werden, Menschen, die wir aus unseren Beratungssituationen kennen. Viele leben in prekären Verhältnissen. Sie werden sich nicht von angedrohten Sanktionen oder Strafen überzeugen lassen, das hat in ihrem Leben auch jetzt schon nicht funktioniert. Was geschieht denn mit ihnen, wenn sie die Bußgelder nicht zahlen? Dann müssten Zwangsmaßnahmen erfolgen bis hin zu Gefängnisstrafen. Geimpft sind sie dann aber immer noch nicht. Ist das das Ziel? Wer die allgemeine Impfpflicht fordert, sollte das Thema vorher zu Ende denken, juristisch, ethisch und ganz praktisch. Wir tun uns keinen Gefallen mit einer allgemeinen Impfpflicht – wohl aber mit ausreichend Impfangeboten, mit kontinuierlicher Bildungs- und Überzeugungsarbeit und mit einer Impfpflicht für bestimmte Berufe.

Schmelting: Wie reagiert die Diakonie auf die aktuelle Lage?

Wolff: Ich bin froh, dass gut 95 Prozent unserer Mitarbeitenden vollständig geimpft sind, viele auch schon geboostert. Einige Nicht-Geimpfte wollen sich nun doch impfen lassen. Wir haben die meisten Veranstaltungen abgesagt, wie beispielsweise den Adventsmarkt, den das Team vom Ambulant Betreuten Wohnen für die Nutzerinnen und Nutzer im Freien geplant hatte. Auch das Neujahrsfrühstück des Betreuungsvereins sowie alle betrieblichen Advents- und Weihnachtsfeiern wurden abgesagt. Alle Termine, die bereits für 2022 geplant waren, stehen unter Vorbehalt. Wieder einmal heißt es, Kontakte zu beschränken. Aber wir beraten, helfen und pflegen weiterhin präsent unter strengen Hygieneregelungen. Wir bleiben für die Menschen erreichbar.

Schmelting: Viele empfinden die derzeitige Lage als sehr frustrierend und ermüdend. Manche reagieren aggressiv und mit Schuldzuweisungen.

Wolff: Vermutlich wäre die vierte Welle in dieser Wucht vermeidbar gewesen. In solchen Situationen wird gerne Schuld zugewiesen: der Politik, den Impfunwilligen, den feiernden Fußballfans, den Karnevalisten und anderen. Ich glaube nicht, dass solche Schuldzuweisungen hilfreich sind. In unserem Leitbild heißt es: „Wir fördern die individuellen Möglichkeiten jedes einzelnen Menschen und stärken seine Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit.“ Wichtiger als Schuldzuweisungen scheint mir die Frage zu sein, ob und wie wir in den Monaten der Pandemie unserer eigenen Verantwortung nachgekommen sind. Da möge sich jede und jeder selbst prüfen.

Schmelting: Glauben Sie, dass eine Selbstprüfung ausreichend ist?

Wolff: Nein, notwendig ist bei kontroversen Auffassungen das Gespräch zum Beispiel zu der Frage, in welchem Verhältnis Eigenverantwortung und Entscheidungsfreiheit stehen. Meines Erachtens ist das eine längst überfällige Debatte, die angesichts zunehmender gesellschaftlicher Verwerfungen geführt werden muss. Im Gespräch zu bleiben, ist eine der größten Herausforderungen in einer Demokratie. Wir wollen als kirchlicher Wohlfahrtsverband dazu gerne unseren Beitrag leisten.

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